Dienstag, 25. November 2014

Jetzt ist es halb elf und ich esse Müsli - eine Retrospektive

Am Sonntag ist es mir erst bewusst geworden.

Jetzt ist es ziemlich genau ein Jahr her. Vielleicht ein bisschen länger. Aber vor einem zumindest war mein Maturaball. Der hatte dann zur Folge, dass einfach viele, viele Bilder auf diversen social media Plattformen kursiert sind. Von mir im Ballkleid. Von mir während der Mitternachtseinlage. Von mir nur mit Knochen. Spätestens dann haben es alles gewusst. Und mir selbst war es auch schon bewusst.


Wann genau ich mit dieser Krankheit begonnen habe, ist schwer einzuschätzen.

Wars damals mit dreizehn, mit fünfzehn, mit sechzehn, oder doch erst im Winter, als ich dann den endgültigen Beschluss gefasst habe, weniger zu werden? Aber das ist jetzt egal. Passiert ist passiert. Auch eine Erfahrung mehr. Hat mir genauso einiges gebracht, mich stärker gemacht, so kitschig das jetzt auch klingen mag, mich weiterentwickeln lassen, mich zu mich gemacht. Und es macht mich immer noch in gewisser Weise aus. Ist ein Teil von mir, und wer weiß, vielleicht bleibt es das ja auch noch länger. Jeder Tag ist irgendwo eine Herausforderung, die beim Frühstück beginnt und beim Abendessen aufhört. Jeder Blick in den Spiegel sagt etwas anderes. Der Blick in den Kasten dauert zumindest noch immer schrecklich lang. Was kann ich anziehen, was meine Oberschenkel kaschiert? In was sieht man die Tonnen von Essen, die ich gestern in mich reingeschoben habe, am wenigsten? Aber immer noch kein Vergleich zu früher.



Nein.

Es fällt mir schwer, die Bilder von früher anzusehen. Es fällt mir schwer, wegzusehen.

Aber was mir immer wieder bewusst wird, wenn ich doch einmal über sie stolpere, ist, dass sich so Vieles verändert hat. Alles neu. Alles anders. Wieder beim Alten. Man wandelt sich doch immer, tauscht Facetten aus, entdeckt sich neu, findet einiges raus und versteht. Das machen wir alle. Bei mir konnte man es im vergangenen Jahr nur besonders gut sehen. Es war schließlich sichtbar, an meinem Aussehen. An meiner Figur, wie viele Haare an meinem Kopf wachsen. Aber natürlich auch an meiner Art. Und meinem Innenleben. Meiner Gelassenheit. Meiner Umgänglichkeit. An mir eben.
Alles hat sich verändert. Ich erkenne mich gar nicht mehr wieder, wenn ich durch alte Tagebucheinträge blättere und versuche, meine Schrift zu entziffern.
Jetzt bin ich so. Und auch, wenn ich eigentlich jeden Tag ein klein bisschen anders bin. Weil jeder Tag ist eben anders. Und es gibt schlechte und gute Zeiten. Aber selbst, wenn es Momente, die zu Stunden ausarten, gibt, wie Sonntag, an dem ich einfach nichts geschmacksintensiveres als Kräutertee zu mir nehmen konnte, folgt ein Montag, der voll war. An dem ich aufholen konnte.




Früher, da konnte man meine Kopfhaut sehen. Da konnte ich nicht länger als zehn Minuten stehen. Da wollte ich mich selbst nicht angreifen. Da hatte man das Gefühl, bei jedem Blick könnte ich zerbrechen. Da konnte ich nicht reden. Da wollte ich nur schlafen. Früher, da wars das mit der Energie. Da haben mir meine Kleider nicht gepasst. Da war jeder Gedanke gekoppelt. Angekettet an Essen und Mahlzeiten und Oberflächlichkeiten. Da hab ich jeden Tag geweint. Da war ich einsam. Da wusste ich nicht, was ich tun sollte. Da musste ich immer etwas tun. Da konnte ich nicht lieb zu meinen Liebsten sein. Da fehlte mir die Kraft. Da schlug mein Herz zu langsam. Da war mir öffentliches Nahrungsaufnehmen unangenehm. Da war mir sprechen unangenehm. Da musste mein Maturaballkleid am Tag vor meinem Maturaball noch einmal enger genäht werden. Da zählte ich Kalorien. Da war jeder Tag eine Tortur. Da war nicht einmal mein Bett weich für mich. Da wollte ich niemanden sehen. Da war alles Zeitverschwendung und alles ungesund. Da verbrachte ich meine Zeit noch im Waldviertel. Da bin ich noch in die Schule gegangen. Früher, da war mein Körper am kaputt gehen. Früher, da wollte ich nichts. War mit nichts zufrieden. Ich wollte ganz viel anstellen, konnte aber nicht. Da standen überall die Knochen raus. Da war mein Lachen aufgesetzt.

Und jetzt. Jetzt ist alles anders.


Das meiste zumindest.

Jetzt sitze ich stundenlang mit meiner Mitbewohnerin auf der Coach und lache über Geschichten über ihre Freundin. Da treffe ich mich mit Menschen zum Kochen. Ich hab die Haare abgeschnitten, aber endlich sind wieder mehr als nur drei Strähnen von ihnen da. Ich kann ohne Probleme Bilder von mir posten, auf denen ich esse. Ich kaufe ein für mich. Ich stibitze mir einen Apfel. Ich wasche Wäsche. Ich studiere. Ich studiere Biotechnologie und hab wahrscheinlich die allererste Prüfung meines Lebens nicht geschafft. Ich bin gelassen. Trage Blumen in den Haaren. Tanze durch die Nacht. Bin immer noch verwirrt. Lasse Müslischüsseln fallen. Lache in einem Durch. Schaue immer noch auf meine Ernährung. Spiele Harfe. Und in einer Band. Habe ein Hochbett gebaut und verwende ganz viel Wasserfarbe. Stehe früh auf. Lerne Kinematik. Treffe mich mit Freundinnen und gehe auf alle zu. Spreche alle an. War in der Zotterfabrik. Mache Zumba. Radle wann immer es möglich ist. Jetzt tun mir meine Knie weh und mein Herz geht wieder normal. Ich habe schlechte Tage. Ich habe gute Tage. Ich habe immer noch ein gestörtes Essverhältnis. Lebe in einer Großstadt. Habe auf meinen Spiegel geschrieben und hänge Fotos, die ich geschossen habe, in der Wohnung auf. Erzähle allen von meiner Milchmaschine und meinem fairen Handy. Rede ganz viel. Liebe Genetik. Bin nicht immer gut drauf. Jetzt kann ich mir auch mitten in der Nacht etwas zum Essen machen. Und trotzdem bleibt das schlechte Gewissen. Aber es gibt eben immer schlechte Tage, solange sie nicht zu schlechten Zeiten ausarten. Lasse Schlüsseln nachmachen. Zeichne Bilder. Klopfe auf meine Schreibmaschine. Koche mir. Kaufe mir Nudeln beim Asia-Standl um die Ecke. Mache deprimierte Einkäufe im BIPA und DM. Tu Frust-Spenden. Informiere mich. Lese Blogs. Lese Bücher. Lese Missy-Magazine. Checke viel zu selten meine E-Mails. Schreibe viel zu selten Einträge. Habe mir meine Kameras an die Wand an Nägel gehängt. Jetzt bin ich so viel mehr, als ich mir überlegen kann. Jetzt schneide ich allen die Haare. Und mir, besonders, wenn ich nicht besonders drauf bin. Ich sitze zwischen Marina und Alex in den Physik-Übungen. In Mathe neben dem anderen Alex, der sich morgen bei mir eingeladen hat. Hab ein volles Programm. Möchte viel mehr tanzen. Viel mehr schlafen. Viel mehr lernen. Möchte alles viel mehr tun. Ich arbeite an mir, reflektiere und versuche, das beste zu tun, das beste aus allem zu machen. Ich geh den längeren Weg. Ich trage weites Gewand. Manchmal auch nicht. Manchmal schleicht sich auch die ein oder andere enge Hose ein. Ich wasche meine Haare und bin manchmal sogar zufrieden mit der getrockneten Version von ihnen. Jetzt geht es mir gut. Meistens. Jetzt bin ich glücklich. Jetzt habe ich Anschluss, kenne Menschen, die genauso ticken wie ich, fühle mich in meiner Umgebung wohl. Umarme alle. Ich mach mir Jausen. Schreibe ganz viele SMS, vor allem mit meiner Mutter. Führe Listen. Komme mit meinen Listen nicht nach. Bald ist Weihnachten! Besuche meine Schwester in der Berufsschule. Schwärme vor mich hin. Genieße es. Lass alles auf mich zukommen. Schlafe auch manchmal aus. Manchmal kann ich auch gar nicht schlafen. Ich trinke viel zu viel Kaffee und bin immer noch unzufrieden mit mir. Ich versuche, das Volle aus dem Tag zu schöpfen. Möchte mit Wörtern um mich schmeißen. Möchte so viel wie möglich erleben. Ich möchte helfen. Gebe ehrenamtlich Nachhilfe für einen Flüchtling. Putze die Küche. Fange ganz schnell zum Weinen an. Jetzt wohne ich mit drei anderen in einer Wohnung. Teile die Gasrechnung auf. Verwalte das Geld. Jetzt fehlt mir nicht viel. Außer vielleicht das Geld. Aber wer braucht schon Geld, Geldhaben ist doch uncool. Ich höre Musik. Immer. In dieser Zeit, bei dem Wetter am besten The Postal Service, Mixe von Angus&Julias Stone und The Beatles. Besser geht es gar nicht.

















Ich backe Kuchen mit einem meiner Lieblingsmenschen und esse ihn dann auch. Mache mir ganz viele Sachen aus. Nehme mir Dinge vor. Ich weiß, ich kann nicht alles schaffen. Ich wasche meine Wäsche. Ich bin viel spontaner geworden. Muss nicht alles vorher planen, nicht jede Mahlzeit einkalkulieren. Versuche, mehr Kreativität in den Tag zu bringen. Hab überall ein Notizbuch dabei. Krieg Herzklopfen. Bin nervös. Trau mich nicht. Gehe auf Konzerte. Verschlafe die Uni. Verschlafe ganze Tage. Lade Leute ein zu mir. Ich verstecke mich nicht. Zumindest nicht mehr so sehr.

Es geht vieles weiter.

Man glaubt es selbst nur oft nicht.
Wenn man nicht den extremen Vergleich hat, hat man oft das Gefühl, man steht im Stillstand. Wenn man nicht weiter zurück denkt und sich überlegt, wie viel man geleistet hat. Wie sehr man über sich selbst hinausgewachsen ist. Und am besagten Sonntag habe ich von meiner Schwester erzählt, die, nebenbei gesagt, eine unglaubliche Person ist. Sie hat mir mein Ballkleid, das weiße, bodenlange, genäht, das wir nochmal umnähen müssen, für das die Nacht dann durchgemacht worden ist, weil es mir viel zu locker geworden ist. Zwei meiner liebsten Studienkolleg*innen hab ich davon erzählt. Eben auch von dem Kleid. Dann wurden Fotos verlangt. Und auf den Fotos erkennt man es einfach sofort. Da wurde es mir einfach wirklich klar. Es geht weiter. Immer. Auch, wenn man das manchmal nicht glauben mag. Nicht für möglich hält. Und obwohl ich ein backiges Gesicht habe, keinen komplett flachen Bauch, Oberschenkel, die sich nun mal oben berühren, ich möchte nicht mehr zurück. Ich möchte weiter springen können. Wegen meiner Energie bekannt sein. Das macht mich zu einem gewissen Maße aus, dass ich motiviert bin, dass ich fünf Stunden am Stück auf der Tanzfläche herum hüpfen kann. Und das ohne Speed. Ohne Drogen. In genau solchen Momenten führe ich mir das immer wieder gerne vor Augen. Wie lasch ich in meinem Bett gelegen bin. Jeden Tag um fünf auf. Bauchübungen. Ich kann nicht mehr! Weiter. Wie mich das Wochenende immer geschafft hat. Ich kann nicht aufstehen. Aber sogar das Bett war unbequem. Alles hat weh getan. Nichts war mit Freude behaftet gewesen. So, rückblickend betrachtet, war für mich alles mit einem grauen Schleier unterlegt gewesen.

Jetzt ist es grau draußen. Nicht mehr in mir drinnen. Und meine Sonne mach ich mir mit der Sonnenblume, die ich mir immer mal wieder in die Haare stecke. Dann schalt ich mir Musik ein. Neues entdecken. Und los gehts. Ein neuer Tag, was kann ich heute alles schaffen?

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